Texte Deshalb ein Vorschlag: Frauen, manspreadet! Nehmt euch endlich den Raum, der euch genauso wenig zusteht, drückt die Knie gegen die des Sitznachbarn, um eure Beine zwei Grad weiter spreizen zu können, freut euch über jeden vor Selbsterkenntnis angeekelten Blick in euren weit geöffneten Schritt, führt die ganzen jämmerlichen Machtkämpfchen, weil wir Männer nur so lernen werden, wie archaisch und lächerlich und damit bemitleidenswert niedlich unser Verhalten ist. Und es macht ja auch Spaß. FAS, 2018 Sie fahren ein paar Hundert Meter mit dem Auto über einen sacht ansteigenden Schotterweg, dann halten sie zwischen Feldern. Die Freiheit riecht nach Kuhscheiße. Weit unter ihnen funkelt der Stacheldraht auf den Gefängnismauern. Rashid zündet einen Joint an. Harun streckt sein Gesicht Richtung Sonne, auf dem Rücken glänzt sein neues Tattoo in Frakturschrift. Only God Can Judge Me. Die Zeit, 2017 So kam es, dass Yehudit Bachman als Nazitouristin Anklam besuchte, ein leerstehendes Geschäft sah und blieb. Dass der Laden neben der NPD lag, fand sie eigentlich ganz lustig. FAS, 2019 Eigentlich sollte das ein Interview mit Money Boy und einem Sprachwissenschaftler werden über den Einfluss von Hiphop auf die Sprache. Wir waren sogar schon da, der Sprachwissenschaftler, die Fotografin, ich, wir warteten an einem Novembernachmittag im Hof eines Wiener Wohnhauses im 6. Bezirk. Nur Money Boy, der fehlte. FAS, 2017 Und da sehe ich es. Auf dem Boden, hinter dem Fließband, sitzt ein weißes Huhn, wahrscheinlich ist es kurz vor dem Betäubungstunnel vom Band gefallen. Es bewegt sich nicht. Guckt nur. Erhaben, irgendwie wissend. Geo, 2019 Montag in Kreuzberg, elf Uhr, der Morgen nach dem Superbowl. Maurice Ernst würde ein paar Interviews für das neue Bilderbuch-Album „Vernissage My Heart“ geben. In seinem Zimmer im Hotel „Orania“ schob er die Schiebetür zwischen Schlaf- und Wohnbereich zu und schenkte Mineralwasser ein. Ach ja, er sah sehr gut aus. FAS, 2019 Ich nehme Kaffee, für Rico gibt es Desperados, “mit Limette wegen Vitamine”. Nach ein paar Minuten kommen zwei Kumpels. “Wie, ihr seid schon zurück?”, fragt Rico. “Was seid ihr, Schnellspritzer?” Vice, 2019 Die Gruppe verstummte. Ein Smartphone, in einen Plastikbecher gelehnt, erzeugte ein furchtbares Autotune-Geplärre. Die Jungs und Mädchen schauten mich mit dem Trotzblick an, mit dem Teenager alles anschauen, insbesondere besorgniserregende Elemente wie Erwachsene. Ultra langsam fragte eine: „Sind Sie betrunken?“ FAS, 2018 An einem strahlenden Morgen gehe ich die Stufen zum Ganges hinunter. Ein Mann kommt auf mich zu, er trägt ein mauvefarbenes Hemd. Das schwarze Haar ist voll, der Schnurrbart perfekt gezwirbelt und sein Händedruck der zarteste, den ich je gespürt habe. „Delfine?“, fragt er, als wisse er schon, was ich wolle. „Komm auf mein Boot, mein Freund, ich zeige sie dir.“ Geo, 2019 An einem der letzten Abende in Atlanta ging ich ins „Lacura“, einen Club an einer trostlosen Fernstraße auf der Southside. Auf der Bühne rappte ein Zwanzigjähriger, rote Dreads flogen ihm um den Kopf. Er hieß Lil Keed. Keine Ahnung, ob ich je auf einem schlechteren Konzert war. Playback, Übersteuerungen, und verstand ich doch mal was, war es „bitch“ oder „fuck“. Ich erinnere mich aber auch an keines, das annähernd dieselbe Energie hatte. Zweihundert Teenager und ihr kaum älterer Star, vereint durch maximalen Willen und mittlere Textsicherheit: Das schmerzte ein bisschen, aber es wärmte auch, als sei man der Sonne ein Stückchen näher. FAS, 2019 Die anderen kamen immer. Hundert, zweihundert Mann. Nachmittags sah man sie in der Stadt, ein fremder, bedrohlicher Phänotyp. Das waren keine pseudohippen New-Balance-Jungidentitären. Diese Männer hatten Springerstiefel und Köpfe wie Bowlingkugeln. Stiernackenfaltenglatzen. Nazis, direkt und stumpf. FAS, 2019 An einem Sonntagvormittag, langsam erwacht der Patriot Park bei Moskau mit den ersten Besuchern, klettert eine Handvoll Jungs in Ganzkörpertarnfleck auf einen der Dutzenden Panzer. Auf einer Parkbank sitzen ihre goldzahnigen Großväter, Veteranen mit Ordensbrüsten, die auf Deutsch grüßen: „Guten Morgen, Kameraden.“ JWD., 2019 Es war eine Uhrzeit erreicht, zu der man zu zweit ging oder allein blieb. Mir war klar, worauf es für mich hinauslief. Ein urmächtiger Bannzauber hielt von dem Fest die Jahre fern, die nach dem Abitur vergangen waren. In der Nacht würde ich die Person bleiben, von der die anderen dachten, dass ich sie wäre. Forever siebzehn. FAS, 2019 Am selben Tag fordert sie die Vermisstenakten der Frauen an. Zwei schmale blaue Schnellhefter, viel war in beiden Fällen nicht zusammengetragen worden. Hildegard K., Tag des Verschwindens: 12. 3. 1986. Annegret B., Tag des Verschwindens: 5. 10. 1988. In jeder Akte liegt ein handgeschriebener Brief, adressiert an das Polizeipräsidium. Marianne Atzeroth-Freier faltet das erste Schreiben auseinander und liest. „Ich möchte hiermit klarstellen, daß ich, Annegret B. nicht vermißt bin.“ Die Kommissarin nimmt den Brief aus der anderen Akte. „Ich möchte mit diesem Brief klarstellen, daß ich nicht vermißt bin.“ Stern Crime, 2017 Zwei Tage hatte es mit dem Auto von der nächsten Stadt gedauert, über endlose Serpentinen schlängelten wir uns in den Himalaya. Als mein Fahrer und ich Gangotri erreichten, war die Luft dünn, und im Schatten lagen Schneeinseln. Über einer Gruppe beflaggter Tempelchen leuchtete der Gletscher des Ganges als weißes Dreieck. Frankfurter Allgemeine Quarterly, 2018 Von seinem Schwarzweiß-Outfit über die Geschichte, wie er früher in Hamburg nachts durch den Hafen spazierte, zu den Titeln der Stücke – „Dimanche soir“, „65 East India Row“ – und den Stücken selbst, die wie durch eine Watteschicht aus der Vergangenheit herüberwehen: Es ist dieses Sehnsuchts-Zuviel, das entweder begeistert oder nervt, und ob es begeistert oder nervt, kann man sich mit der Frage beantworten: Will man, dass auf der eigenen Beerdigung ein Stehgeiger spielt? FAS, 2018 Es folgt ein Moment stiller Andacht, in dem einige am Tisch ihrem Schutzheiligen danken dürften dafür, dass jetzt das Ziel der Trinkerverbrüderung eindeutig Young Krillin ist. „Joa“, sagt er, „ich bin Rapper.“ Dummy, 2019 Vor so einem Club haben Sie sich kennengelernt, oder? CASPER: Wir haben uns kennengelernt, weil Marten beim Bund war. Anfang der nuller Jahre war das. MARTERIA: 2000, ja. Zehn Monate Grundwehrdienst. Nur weil ich „Full Metal Jacket“ geguckt hatte. Morgens um sieben zur Musterung gegangen: „Ich würde gern nach Afghanistan, Fallschirmjäger werden.“ Alles klar, du bist Kiffer, du kommst nach Munster. FAS, 2018 Überhaupt: Ist die Russenhocke nicht die einzige Haltung, um dieser Welt als 15-Jähriger entgegenzutreten? Also gar nicht, sitzen bleiben, warten und die Welt verachten? Im Wortsinn: eine Verweigerungshaltung? Tagesspiegel, 2018 Zu der Zeit ging ich auf eine Journalistenschule, und vielleicht lag es daran, dass ich manchmal dachte: super Geschichte. Musiker nimmt Album seines Lebens auf, wider Erwarten wird es ein Erfolg, ein Szeneklassiker, geliebt bis heute – doch statt dann richtig Geld zu verdienen mit der Musik, hört er auf. Verkauft Schuhe. Und dann heiratet er noch die auf dem Album verewigte Exfreundin. Das war wie „Searching for Sugar Man“, die Geschichte des verschollenen Sängers Rodriguez, wie „Hobalala: Auf der Suche nach João Gilberto“ über den geisterhaften Bossa-Nova-Musiker. Mindestens. Oder so ähnlich. FAS, 2019 Es dürfte Ende Juli gewesen sein, als der Sommer begann, sich falsch anzufühlen. Die Sonne schien, 32 Grad. Trotzdem ging ich mit Wehmut ins Bett, weil ich sicher war, dass der Sommer am Morgen vorbei sein würde. Fiebrige Unruhe überkam mich nun öfter, wenn ich mal wieder am Ufer eines Gewässers lag. Es war zu lang unbeschwert gewesen. Etwas musste passieren, die kosmische Rückhand holte aus, und man konnte bloß abwarten, wo sie einen traf. FAS, 2018 Auf den Tod des Großen Amerikanischen Schriftstellers folgten Huldigungen praktisch aller lebenden anderen GAS, ungezählte Foreneinträge von Fans, die schrieben, wie David Foster Wallace ihnen im wörtlichen Sinn das Leben gerettet habe, Biographien, ein Spielfilm, der ganze messianische Erinnerungskult, der DFW zu einer Art Grunge-Version von Jesus machte: Er, der an ihm verzweifelt war, hatte sich ersatzweise dem Zuviel der Gegenwart ausgesetzt, damit wir es nicht mussten. Amen. FAS, 2018 Mein „lit“ war bis dahin „cool“ gewesen. Musste ich cool durch lit ersetzen? Klang für all die porno- und tablettensüchtigen Großstadtjugendlichen, die ihre Pubertät in der U-Bahn ausdünsteten, mein cool eben nicht cool, sondern wie . . . Hammer? Fresh? Knorke? Wann war knorke eigentlich cool gewesen (also lit)? FAS, 2017 Die Erfolgsgeschichte von E-Sport ist auch die Geschichte dreier Brüder. Die aus der traditionellsten Sportwelt überhaupt kommen – Fußball – und alle auf ihre Weise dazu beigetragen haben, dass elektronischer Sport in und aus Deutschland erfolgreich wird. Ralf, der Firmengründer. Tim, der Manager. Und Benjamin, der als Spieler einer der ersten Stars des deutschen E-Sports hätte werden können, aber sich dagegen entschieden hat. Capital, 2017 Während andere singende Rapper in den letzten Monaten schamlos mit dem Schlagerhaufen gespielt haben, trennt Yung Hurn von ihnen, dem ganz großen Erfolg und dem Haufen immer noch das hauchdünne Plastik eines Kotbeutels, auf dem, in Frakturschrift, „Stil“ gedruckt steht. FAS, 2018 Irgendwo am Steintorwall ruft Haiyti plötzlich: „Stopp!“ Sie läuft auf die Straße, wo die Autos vor einer roten Ampel warten. „Mach ein Bild! Schnell!“ Sie stellt sich vor eine Gruppe Männer mit Motorrädern, der Regen, das Licht der Scheinwerfer, die Abgase der anfahrenden Maschinen – es ist perfekt. FAS, 2018 An einem Freitagnachmittag, drei Wochen vor der Veröffentlichung von „Eros“, warten der Fotograf und ich vor der Alten Weinstube in Bietigheim-Bissingen. Es regnet. Von den vereinbarten 90 Minuten Interviewzeit sind 30 vorbei, als ein silberner Ford Mondeo hält. „Steigt ein“, sagt Rin, „ich brauch ein neues Macbook-Kabel und was zu essen.“ Neon, 2017 Sheila Gaff ist 1,65 Meter groß und ausgebildete Bürokauffrau. Sie wiegt keine 60 Kilogramm und schafft weit mehr als 100 Liegestütze am Stück. Sie hat Höhenangst und sieht in Trainingsmontur aus, als könne sie einen Rockerkrieg allein beenden. Einmal schlug sie eine Gegnerin in acht Sekunden k.o. FAS, 2015 Am Ende des Waldweges hält Alexander an und holt einen Metallkoffer aus dem Kofferraum. Aus dem großen Koffer nimmt Alexander einen kleinen Koffer und aus dem kleinen Koffer eine silberne Pistole. Er schiebt ein Magazin ein, lädt durch, und es knallt ohrenbetäubend. „Das macht garantiert jedem Angst“, sagt er. FAS, 2014